Verliert unser Gehirn Nervenzellen, kann es diesen Verlust selbst kaum
kompensieren. Wissenschaftler und Ärzte hoffen daher, mit transplantierten
Nervenzellen Schäden durch Verletzungen oder Krankheiten auszugleichen.
Inwieweit sich die neuen Zellen in ein bestehendes Nervennetzwerk
integrieren und dessen Aufgaben übernehmen können, ist jedoch unklar. Nun
zeigen Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München, des
Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und des Helmholtz Zentrums München
in Mäusen, dass transplantierte embryonale Nervenzellen zu gleichwertigen
Mitgliedern eines bestehenden Nervennetzwerks heranwachsen und die
Aufgaben ihrer neuen Position vollständig übernehmen.
Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson, aber auch ein
Schlaganfall oder bestimmte Verletzungen, führen zum Verlust von
Nervenzellen. Da das Säugetiergehirn verlorene Nervenzellen nur in
einzelnen, kleinen Bereichen selbst ersetzen kann, ist der Zellverlust in
der Regel permanent. Die Transplantation junger Nervenzellen in ein
betroffenes Nervennetzwerk, zum Beispiel bei Patienten mit der Parkinson-
Krankheit, lassen auf die Möglichkeit einer medizinischen Verbesserung der
klinischen Symptome hoffen. Ob die in bisherigen Studien transplantierten
Zellen jedoch helfen, vorhandene Lücken zu überbrücken, oder ob sie
tatsächlich die Aufgaben der verlorenen Zellen übernehmen, blieb
unbekannt.
In einer gemeinsamen Studie, die vom Sonderforschungsbereich 870 der
Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt wurde, haben Wissenschaftler
des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie, der Ludwig-Maximilians-
Universität München und des Helmholtz Zentrums München nun die funktionale
Integration transplantierter Nervenzellen in der Sehrinde der Maus
untersucht. „Dieser Hirnbereich war optimal für unsere Untersuchungen“,
erklärt Magdalena Götz, die sich die Leitung der Studie mit Mark Hübener
teilt. Der fügt hinzu: „Mittlerweile kennen wir die Verknüpfungen und
Funktionen dieser Nervenzellen so gut, dass wir einschätzen konnten, ob
die neuen Nervenzellen echte Aufgaben im Netzwerk übernehmen.“ Im Versuch
transplantierten die Forscher embryonale Nervenzellen der Großhirnrinde in
läsionierte Sehrindennetzwerke erwachsener Mäuse. Im Verlauf der folgenden
Wochen und Monate beobachteten die Neurobiologen dann unter dem Zwei-
Photonen-Mikroskop, wie sich die unreifen Nervenzellen zu den sogenannten
Pyramidenzellen ausdifferenzierten, die in den beschädigten Bereich
gehören. „Allein zu sehen, dass die Zellen überleben und sich
weiterentwickeln, war schon eine aufregende Beobachtung“, berichtet Mark
Hübener, der zusammen mit Tobias Bonhoeffer am Max-Planck-Institut für
Neurobiologie den Aufbau und die Funktion der Sehrinde entziffert. „Doch
richtig spannend wurde es, als wir die Signale der neuen Zellen näher
unter die Lupe genommen haben.“ In ihrer gemeinsamen Studie konnten die
Wissenschaftlerinnen Susanne Falkner und Sofia Grade zeigen, dass die
neuen Zellen sich genauso wie die Nervenzellen dieser Region verknüpfen
und auf Sehreize antworteten.
Zum ersten Mal konnten auch die Verbindungen der transplantierten
Nervenzellen im Gehirn untersucht werden. Erstaunlicherweise verknüpfen
sich die Pyramidenzellen, die aus den transplantierten Jungzellen
entstanden waren, mit exakt den richtigen Nervenzellen im gesamten
Netzwerk des Gehirns. So erhielten sie die gleichen Informationen wie die
ausgefallenen, ursprünglichen Zellen des Nervennetzwerks und konnten diese
entsprechend verarbeiten. Auch die nachgeschalteten Nervenzellen
entsprachen denen der untergegangenen Zellen. „Die fremden Nervenzellen
haben somit mit hoher Genauigkeit eine Lücke in einem neuronalen Netzwerk
geschlossen, das unter natürlichen Umständen niemals neue Nervenzellen
integrieren würde“, schwärmt Magdalena Götz, die mit ihren Teams am
Helmholtz Zentrum und der Ludwig-Maximilians-Universität untersucht, wie
verlorene Nervenzellen wieder ersetzt werden können. Die neue Studie zeigt
nun, dass mit Hilfe fremder Zellen auch das erwachsene Säugetiergehirn
seine Regenerationsfähigkeit behält und so funktionale Lücken in einem
bestehenden Netzwerk schließen kann.
ORIGINALVERÖFFENTLICHUNG
Susanne Falkner*, Sofia Grade*, Leda Dimou, Karl-Klaus Conzelmann, Tobias
Bonhoeffer, Magdalena Götz**, Mark Hübener**
Transplanted embryonic neurons integrate into adult neocortical circuits
Nature, online am 26. Oktober 2016
*gemeinsame Erstautoren; **gemeinsame Studienleiter
KONTAKT
Dr. Stefanie Merker
Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Öffentlichkeitsarbeit
Tel.: 089 – 8578 3514
Email: merker@neuro.mpg.de
Prof. Dr. Mark Hübener & Prof. Dr. Tobias Bonhoeffer
Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Abteilung „Synapsen – Schaltkreise – Plastizität“
Email: mark@neuro.mpg.de
Prof. Dr. Magdalena Götz
Biomedizinisches Centrum der Ludwig-Maximilians-Universität und Institut
für Stammzellforschung am Helmholtz Zentrum München
Quelle: IDW